20. Juli 2020

Schafft endlich die Direktmandate ab!

Reform­bau­stel­le seit Anbe­ginn, Anlaß für eine Abfol­ge von Ver­schlimm­bes­se­run­gen, Resul­tat von Ver­kom­pli­zie­run­gen – das ist unser Bun­des­tags­wahl­recht. Das Pro­blem liegt wie so oft in sol­chen Fäl­len in einer Ent­schei­dungs­schwä­che, die sich als Opti­mie­rungs­wil­len und Per­fek­tio­nis­mus tarnt. Das Bes­te aus Sys­te­men, die sich aus­schlie­ßen, soll ver­eint wer­den. Das Grund­ge­setz selbst ist unschul­dig, schreibt es doch in Art. 38 nur die all­ge­mei­nen Wahl­grund­sät­ze fest. Der Bun­des­ge­setz­ge­ber ist es, der sich weder für ein Mehr­heits­wahl­recht noch für ein Ver­hält­nis­wahl­recht ent­schei­den konn­te und so das Unge­tüm eines „per­so­na­li­sier­ten Ver­hält­nis­wahl­rechts“ geschaf­fen hat.

Der Wäh­ler soll eben nicht nur Par­tei­en wäh­len, son­dern auch Per­so­nen. Er soll auf die per­so­nel­le Zusam­men­set­zung des Bun­des­tags Ein­fluß neh­men kön­nen, indem er mit der Erst­stim­me einen Direkt­kan­di­da­ten wählt. Die Zweit­stim­me ent­schei­det über die Kräf­te­ver­hält­nis­se im Par­la­ment und ist damit, obwohl an zwei­ter Stel­le ste­hend, die eigent­lich Wich­ti­ge. Allein dies bot schon Anlaß für aller­lei Irre­füh­rung und Wäh­ler­täu­schung in diver­sen Erst- und Zwei­stim­men­kam­pa­gnen. Ich erin­ne­re nur an die Erst­stim­men­kam­pa­gne der NPD “zuguns­ten” der AfD bei der Land­tags­wahl in Sach­sen-Anhalt 2016 oder die Zweit­stim­men­kam­pa­gnen der FDP für sich selbst.

Der Haupt­ein­wand aber lau­tet: Die wenigs­ten Wäh­ler ver­ste­hen den Unter­schied zwi­schen Erst- und Zwei­stim­men, und von denen, die ihn ver­ste­hen, machen die wenigs­ten einen Unter­schied. Die Par­tei wird gewählt, ob mit Erst- oder Zwei­stim­me. Die poli­tisch hoch­gra­dig Akti­ven, die sich mit Wahl­kreis­kan­di­da­ten befas­sen, Lebens­läu­fe lesen, Qua­li­fi­ka­tio­nen begut­ach­ten, Cha­rak­te­re bewer­ten und dann even­tu­ell einem ande­ren Kan­di­da­ten die Stim­me geben als dem Kan­di­da­ten der Par­tei, die sie auch mit der Zweit­stim­me wäh­len, die­se geschmäck­le­ri­schen Gebrauch­ma­cher von den sub­ti­len Mög­lich­kei­ten eines per­so­na­li­sier­ten Ver­hält­nis­wahl­rechts sind eine Min­der­heit. Nur für sie aber ist die­ses Kon­strukt kon­stru­iert wor­den. Es fragt sich, ob deren Bedürf­nis nach Per­so­na­li­sie­rung den Auf­wand recht­fer­tigt, und, ob ihrem Bedürf­nis nicht viel­leicht ande­res und ein­fa­cher ent­spro­chen wer­den kann.

Zum Auf­wand: Das per­so­na­li­sier­te Ver­hält­nis­wahl­recht krank­te von Anfang an dar­an, daß die Direkt­man­da­te die Ver­hält­nis­wahl ver­zer­ren konn­ten. Gewann eine Par­tei allein durch Direkt­man­da­te mehr Bun­des­tags­sit­ze, als ihr gemes­sen am Zweit­stim­men­an­teil zukam, ver­blie­ben ihr die­se Sit­ze als sog. Über­hang­man­da­te. Die Macht­ver­hält­nis­se im Bun­des­tag ent­spra­chen also ent­ge­gen dem Prin­zip der Ver­hält­nis­wahl nicht exakt dem Zweit­stim­men­ver­hält­nis. Wäh­rend der ers­ten Jahr­zehn­te der Bun­des­re­pu­blik fie­len die­se Dif­fe­ren­zen kaum ins Gewicht, haben an den Regie­rungs­mög­lich­kei­ten nichts geän­dert, und so wur­de der Sys­tem­feh­ler wegen der poli­ti­schen Bedeu­tungs­lo­sig­keit sei­ner Aus­wir­kun­gen durch die Recht­spre­chung toleriert.

Das änder­te sich nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung. Die CDU erhielt bei der Bun­des­tags­wahl 1994 durch teils knap­pe Wahl­sie­ge in Direkt­wahl­krei­sen bei zurück­ge­hen­den Ergeb­nis­sen in der Zweit­stim­me so vie­le Über­hang­man­da­te, daß erst dadurch eine sta­bi­le Koali­ti­ons­bil­dung, damals noch mit der FDP, ermög­licht wur­de. Eine sol­che Rele­vanz der Direkt­man­da­te war im per­so­na­li­sier­ten Ver­hält­nis­wahl­recht nicht vor­ge­se­hen, der Gesetz­ge­ber und die Recht­spre­chung aber scheu­ten vor einer grund­sätz­li­chen Lösung zurück und behal­fen sich mit kos­me­ti­schen Korrekturen.

Zuerst wur­de das „Abschmel­zen“ von Über­hang­man­da­ten ein­ge­führt: Hat­te eine Par­tei in einem Bun­des­land ein Über­hang­man­dat errun­gen, wur­de ein aus­schei­den­der Abge­ord­ne­ter nicht durch einen Lis­ten­kan­di­da­ten ersetzt. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt erklär­te gewis­se gerin­ge Men­gen an Über­hang­man­da­ten noch für tole­rier­bar, ohne für die ver­an­schlag­ten Wer­te sys­te­ma­ti­sche Begrün­dun­gen lie­fern zu kön­nen. Schließ­lich brach­te das 22. Gesetz zur Ände­rung des Bun­des­wahl­ge­set­zes vom 3. Mai 2013 den Ver­such einer sys­te­ma­ti­schen Lösung: die Über­hang­man­da­te wer­den seit­dem durch zusätz­li­che Man­da­te aus­ge­gli­chen, sog. Aus­gleichs­man­da­te, die sicher­stel­len, daß das Ver­hält­nis der Abge­ord­ne­ten im Bun­des­tag dem Ver­hält­nis der Zweit­stim­men entspricht.

Bedingt durch die zuneh­men­de Auf­fä­che­rung des Par­tei­en­spek­trums infol­ge des erst­ma­li­gen Ein­zugs der AfD in den Bun­des­tag, aber auch den Ver­trau­ens­ver­lust ehe­ma­li­ger Volks­par­tei­en, wer­den Direkt­man­da­te, bei denen die rela­ti­ve Mehr­heit zum Wahl­sieg aus­reicht, mit immer gerin­ge­ren Erst­stim­men­er­geb­nis­sen gewon­nen. Dies führt zur Zunah­me von Über­hang­man­da­ten, infol­ge­des­sen zur Zunah­me von Aus­gleichs­man­da­ten. Bei der Bun­des­tags­wahl 2017 wur­de eine Rekord­zahl von 709 Abge­ord­ne­ten erreicht, 111 über der Norm­grö­ße von 598 Abge­ord­ne­ten.  Für 2021 wird eine neue Rekord­grö­ße des Bun­des­tags erwar­tet. Eine sol­che Auf­blä­hung unse­res Par­la­ments erscheint wegen der hohen Kos­ten für den Steu­er­zah­ler und der zuneh­men­den Schwer­fäl­lig­keit des Betriebs über alle Par­tei­gren­zen hin­weg als nicht ver­tret­bar, wes­halb zur Zeit Reform­vor­schlä­ge dis­ku­tiert wer­den, die alle­samt wie­der kei­ne Lösung, son­dern nur wei­te­re Kom­pli­ka­tio­nen mit sich brin­gen. Abge­se­hen davon sind sie sämt­lich Par­tei­in­ter­es­sen ver­pflich­tet und somit wenig konsensträchtig.

Nach der CSU soll die Norm­grö­ße des Bun­des­tags auf 699 stei­gen: 299 Wahl­kreis­ab­ge­ord­ne­te, 400 Lis­ten­ab­ge­ord­ne­te. Wer­den mehr Aus­gleichs­man­da­te nötig, sol­len Lis­ten­be­wer­ber gestri­chen wer­den. Ein Vor­schlag, der offen­sicht­lich der CSU auf den Leib geschnei­dert ist, zieht doch die nur in Bay­ern antre­ten­de CSU seit jeher aus­schließ­lich über Direkt­man­da­te in den Bun­des­tag ein. Ralph Brink­haus, der Vor­sit­zen­de der CDU/C­SU-Bun­des­tags­frak­ti­on, will die Zahl der Bun­des­tags­man­da­te bei 750 deckeln. Das, was dar­über hin­aus­geht, soll dadurch kom­pen­siert wer­den, daß im Wech­sel ein Über­hang­man­dat nicht aus­ge­gli­chen und ein Direkt­man­dat gestri­chen wird. Die Strei­chung von Wahl­kreis­sie­gern ist ver­fas­sungs­recht­lich mehr als pro­ble­ma­tisch. Wäh­ler­stim­men ver­puf­fen, ein Kreis bleibt ohne Reprä­sen­tant, das pas­si­ve Wahl­recht des Kan­di­da­ten wird ver­letzt. Der glei­che Ein­wand trifft auch den Vor­schlag der SPD. Die SPD will bei 690 deckeln und das Zweit­stim­men­ver­hält­nis durch Strei­chung von direkt gewähl­ten Abge­ord­ne­ten errei­chen, wobei der Strei­chung die Wahl­kreis­ge­win­ner mit dem nomi­nal schlech­tes­ten Ergeb­nis zum Opfer fal­len sol­len. Dann wird ein Ran­king der Wahl­kreis­ge­win­ner nach Stimm­ergeb­nis erstellt und unten ange­setzt – eine schlicht­weg absur­de Idee. Mitt­ler­wei­le dis­ku­tiert man ange­sichts der Untaug­lich­keit aller Reform­vor­schlä­ge nur noch über die Reduk­ti­on der Anzahl der Wahl­krei­se, um den Anstieg der Bun­des­tags­grö­ße abzu­brem­sen. Eine sol­che Lösung aber besei­tigt den Sys­tem­feh­ler nicht und schafft Rie­sen­k­rei­se, was wie­der­um die Idee des Wahl­krei­ses frag­wür­dig macht.

Bes­ser als die Wahl­krei­se zu ver­grö­ßern wäre es, sie ganz auf­zu­lö­sen. Das ist mein Reform­vor­schlag und mei­ne Emp­feh­lung an unse­re Bun­des­tags­frak­ti­on: Wir stel­len auf ein rei­nes Lan­des­lis­ten­wahl­sys­tem um. Das wäre eine kon­se­quen­te Lösung, eine an die Wur­zel gehen­de Reform, wie sie der AfD gut zu Gesicht stün­de. Die 598 Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten wer­den nach den Lis­t­en­er­geb­nis­sen auf die Lan­des­lis­ten ver­teilt. Der Bun­des­tag erreicht so immer Norm­grö­ße. Das Kräf­te­ver­hält­nis im Par­la­ment ent­spricht exakt dem Stimm­ergeb­nis, mit­hin dem Wäh­ler­wil­len. Selbst der Ein­fluß des Wäh­lers auf die per­so­nel­le Zusam­men­set­zung müß­te nicht geop­fert wer­den, wenn die Lan­des­lis­ten zur Bun­des­tags­wahl als offe­ne Lis­ten kon­zi­piert wüden wie schon jetzt bei Kom­mu­nal­wah­len oder bei der Land­tags­wahl in Bay­ern. Der Wäh­ler hat eine Stim­me, kann sie aber jedem Kan­di­da­ten auf der Lis­te geben. Die Kan­di­da­ten zie­hen in der Rei­hen­fol­ge ihres Stimm­ergeb­nis­ses ein. Ihre Rei­hen­fol­ge auf der Lis­te ist also kei­ne Rang­fol­ge, son­dern nur eine Auf­lis­tung. Erreicht der Kan­di­dat auf Platz 17 mehr Stim­men als der Kan­di­dat auf Platz 3, zieht er vor ihm ein. Dies wäre zugleich ein mäch­ti­ger Anreiz, guten Wahl­kampf zu machen und also ein Bei­trag zur Bele­bung der Demo­kra­tie. Die Ein­füh­rung eines rei­nen Ver­hält­nis­wahl­rechts mit offe­nen statt star­ren Lis­ten behebt auf einen Schlag alle Pro­ble­me des bestehen­den Systems.

Und noch ein Vor­teil wäre damit ver­bun­den: Spe­zi­ell die CDU hat einen Typus von Abge­ord­ne­tem her­vor­ge­bracht, der sich auf einem Lan­des­par­tei­tag und auf einer Lan­des­lis­te wohl kaum behaup­ten wür­de, aber im Wahl­kreis doch eine Mehr­heit zustan­de bringt, weil er in sei­nem Nah­be­reich eine gewis­se Anhän­ger­schaft vor­zu­wei­sen hat. Die­sem über­flüs­si­gen Typus des gebo­re­nen Hin­ter­bänk­lers, der nicht eigent­lich Poli­tik zu machen ver­steht, son­dern sich auf hono­ra­tio­ren­haf­te Reprä­sen­ta­ti­on beschränkt, wür­de die Grund­la­ge ent­zo­gen. Von der Schar sol­cher Hin­ter­bänk­ler geht zugleich der stärks­te Wider­stand gegen eine gründ­li­che Reform unse­res Wahl­rechts aus. Will die AfD eine ech­te Alter­na­ti­ve sein, darf sie sol­che Inter­es­sen­la­gen nicht berücksichtigen.

Hans-Tho­mas Tillschneider